Eberhard Sandschneider Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Prof. Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik ]
Moderatorin: Herzlich willkommen im tagesschau-Chat. Im ARD-Hauptstadtstudio ist heute Prof. Dr. Eberhard Sandschneider zu Gast. Er ist China-Experte und Direktor des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Liebe User, nutzen Sie die Gelegenheit, um ihre Fragen zu den massiven Aufständen in Tibet an unseren Experten zu richten. Herr Sandschneider, herzlich willkommen - können wir beginnen?
Eberhard Sandschneider: Selbstverständlich, ich freue mich auf die Fragen.
Moderatorin: Gleich zu Beginn eine der beliebtesten Fragen aus der Vor-Chat-Phase:
salkw: Wie kommt China dazu, einen Anspruch auf Tibet zu erheben?
Eberhard Sandschneider: China hat unmittelbar nach der Errichtung der Volksrepublik im Jahr 1949 und in den beiden anschließenden Jahren Tibet militärisch erobert und erhebt seither einen Souveränitätsanspruch, der von der internationalen Staatengemeinschaft auch nicht in Frage gestellt wird. Erst vor wenigen Wochen hat der deutsche Außenminister die Zugehörigkeit Tibets zum chinesischen Staatsgebiet ausdrücklich bestätigt. Die Kritik des Westens richtet sich eher gegen Menschenrechtsverletzungen und gegen den Umgang Chinas mit der tibetischen Kultur.
dedda: Was ist an Tibet so bedrohlich für China?
Eberhard Sandschneider: Tibet selbst ist gar nicht bedrohlich für China, aber die Unabhängigkeitsbestrebungen sind eine große Herausforderung für Chinas Interesse, seine nationale Souveränität und seine interne Stabilität zu wahren.
Eberhard Sandschneider Großansicht des Bildes [Bildunterschrift: Der China-Experte Prof. Dr. Eberhard Sandschneider (li.) im tagesschau-Chat ]
F_Wüchner: Der Zeitpunkt für den Aufstand ist geschickt gewählt. China steht wegen der Olympischen Spiele unter den Augen der Weltöffentlichkeit und kann nicht zu hart auf die Proteste reagieren. Denken Sie, dass auch andere "Separatisten" wie die Uighuren oder die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung, die Gunst der Stunde nutzen und die chinesische Regierung unter Druck setzen werden?
Eberhard Sandschneider: Das ist zumindest die Befürchtung der Regierung in Peking. Wir sollten nicht vergessen, dass am kommenden Samstag in Taiwan Präsidentschaftswahlen stattfinden, die aus Pekinger Sicht ebenfalls mit großer Aufmerksamkeit und zum Teil auch mit Sorge betrachtet werden. Die chinesische Regierung hat mittlerweile begriffen, dass die Olympiade nicht nur ein großes sportliches Ereignis - mit dessen Hilfe man das Image des Landes international aufpolieren kann - sein wird, sondern dass es auch vielfältige Versuche gibt, Kritikpunkte des Westens bei dieser Gelegenheit in besonderer Weise insbesondere in unseren Medien in den Mittelpunkt zu stellen. Selbstverständlich wissen die Vertreter tibetischer Exilorganisationen, dass die hohe internationale Aufmerksamkeit auf der Olympiade für sie ein idealer zeitlicher und sachlicher Zusammenhang ist, um ihre eigenen Forderungen in die internationale Aufmerksamkeit zu bringen.
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Moderatorin: Wir haben während des Chats eine Umfrage bei den Usern angestellt: War die Vergabe der Olympischen Spiele an China ein Fehler?- 71 Prozent haben "ja" gesagt, 29 Prozent "nein". Ist dieses Ergebnis eine Mode-Erscheinung? War die Meinung der Deutschen aus Ihrer Sicht vor einigen Jahren noch anders?
Eberhard Sandschneider: Wir beobachten im Augenblick in Deutschland eine bemerkenswerte Trendwende. Aus dem China-Hype den wir noch vor einigen Jahren hatten, ist längst China-Angst geworden. Das Land ist uns insgesamt unheimlich, weil es sich schnell entwickelt, weil wir nicht wissen, was das letztendlich an unmittelbaren Konsequenzen für uns hat. Obwohl wir ahnen und zum Teil auch schon erleben, dass Dinge, die in China passieren, auf unser tagtägliches Leben unmittelbar Einfluss haben. Das gilt für den Erhalt von Arbeitsplätzen genauso wie für das berühmte "Made in China", das man auf Kleidungsstücken in unseren Kaufhäusern findet. Ich bin fest davon überzeugt, dass es keinen Sinn macht, vor China Angst zu haben. Auch in China werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das Land hat zwar einen beeindruckenden Entwicklungsweg hinter sich aber auch Probleme angehäuft im sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereich, die gewaltig sind und zumindest ähnlich tief greifenden Herausforderungen führen, wie die Situation derzeit in Tibet. Letztendlich ist das, was China tut, aus der Sicht der chinesischen Regierung legitim. Das Land entwickelt sich in Konkurrenz und zum Teil auch in Rivalität zum Westen. Wir würden das genauso tun, wenn wir es nur könnten. Es ist zu billig, an dieser Stelle nur China zu kritisieren anstatt uns die Frage zu stellen, was wir tun müssen, um den globalen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, begegnen zu können. Ich verstehe das Bauchgefühl, die Olympiade besser nicht an China zu geben. Aber noch einmal: Dieses Land einzubinden - auch indem man es zum Teil eines solchen sportlichen Großereignisses macht - ist langfristig sinnvoller als jetzt kurzfristig darüber nachzudenken, wie man mit emotionaler Betroffenheit auf die Ereignisse in Tibet reagieren kann.
Moderatorin: Das war eine Stunde tagesschau-Chat. Herzlichen Dank, Herr Prof. Sandschneider, dass Sie sich Zeit für die Diskussion mit den Usern von tagesschau.de und politik-digital.de genommen haben. Dankeschön auch an unsere User für die vielen Fragen, die wir leider nicht alle stellen konnten. Das tagesschau.de-Team wünscht allen noch einen schönen Tag.
Eberhard Sandschneider: Ganz herzlichen Dank für die vielen spannenden Fragen und viel Spaß beim Nachdenken über Kreuzberg!